In der Straße ist ein Blumenladen, es fahren Autos durch, es gehen Leute vorbei. Eine 30er-Zone. Ganz normal.
Der Junge stand am Fenster und hat sich Zähne geputzt, er hat beim Schrubbern die Straße runter geguckt. Optik kalibrieren, mit der Welt vertraut machen. Wie jeden Tag nach dem Aufstehen.
Die Gedanken und die Augen waren vom Schlaf noch ganz verklebt, aber dieses eine Geräusch und dieser Fleck dahinten waren neu.
„Die Rufe in den Kolonien sind tief und kehlig krächzend. Der häufigste Ruf klingt etwa wie „chrochrochro“; dieser Ruf wird variiert. Die Stimmungsrufe lassen sich mit „chroho-chroho-chroho“ beschreiben, die Rufe bei der Paarungsaufforderung klingen wie „kra-orrr“ oder „à-orrr“.“
War das einfach nur ein schwarzer Fleck auf der Hornhaut oder watschelte da zwischen den Autos tatsächlich ein großer schwarzer Vogel?
Was war das? Eine riesige Ente? Eine Gans? Ein Bussard? Ein Adler? Ein Schwan? Gibt es schwarze Schwäne? Ist da was aus dem Zoo ausgebrochen?
Also: Zahnbürste weg, anziehen, schnell runter, gucken, ob das nicht doch vielleicht nur ein Fleck auf der Hornhaut war – und falls nicht, das Tier davon abhalten, sich überfahren zu lassen. Es irgendwie retten.
Zwischen zwei Autos hat er ihn entdeckt, der Vogel war riesig und wollte tatsächlich gerade auf die Straße watscheln.
Das Tier war orientierungslos, hektisch, kraftlos. Selbst für einen Vogel nicht zurechnungsfähig. Also hat sich der Junge auf die Straße gestellt und die Autos angehalten.
Es sind noch ein paar andere Kinder gekommen, sie haben den Vogel auf den Fußweg scheuchen wollen. Einfangen ging nicht – wollten sie auch nicht. Der Respekt vor dem riesigen Hakenschnabel war zu groß.
Das Tier hatte keine offensichtliche Verletzung, da klebte kein Blut im Gefieder, die Flügel waren nicht gebrochen.
Der schwarze Vogel ist schnell gewatschelt, hat versucht, abzuheben. Und es nicht geschafft. Zu schwach. Er ist in den Asphalt eingetaucht. Und das sah nicht gut aus.
„Kormorane sind an Wasser gebunden, die Brutkolonien liegen sowohl an Meeresküsten als auch an den Ufern größerer Flüsse und Seen.“
Irgendjemand hat den Tiernotruf angerufen. „Wir können in ungefähr zwei Stunden da sein.“ Zwei Stunden.
In der Zeit würde der Vogel hektisch werden, noch mehr Startversuche unternehmen, sich beide Flügel brechen und sein kleines Herz würde einen Infarkt bekommen.
Und die bis jetzt sehr geduldigen Autofahrer würden wahrscheinlich irgendwann doch genervt sein. In zwei quälend langen Stunden kann man locker mal eben den Waffenschein machen, in die USA fliegen, im Walmart eine Schrotflinte kaufen, wieder zurück kommen und erst den Vogel und dann die Kinder erschießen.
Nein, das war gemein.
Alle, wirklich haben sehr geduldig geholfen, obwohl sie nicht mussten. War schließlich nur irgendein verirrter Vogel.
Die ganze Straße war in Aufruhr.
Ein Autofahrer hat seinen Wagen abgestellt und die Polizei gerufen, erzählt, was los war. Die Beamten kamen schnell, hatten einen Käfig dabei, der aber zu klein für den großen Vogel war.
Also haben die Polizisten ihre Kollegen von der Feuerwehr gerufen.
Alle haben versucht, den Vogel sanft in Schach zu halten, ihn nicht zu sehr zu bedrängen, ihn irgendwie zu retten.
„Kormorane sind zu allen Jahreszeiten gesellig, die Brutkolonien liegen an Küsten oder größeren Gewässern. Bestand und Verbreitung der Art wurden in Europa durch massive menschliche Verfolgung stark beeinflusst, im mitteleuropäischen Binnenland war die Art zeitweise fast ausgerottet.“
Die Feuerwehr kam mit einem Einsatzwagen. Die Straße war jetzt komplett lahmgelegt, alle haben geholfen, dem armen Kormoran zu helfen.
Zwei Feuerwehrmänner haben den Vogel eingefangen und zum Tiernotdienst gebracht, wo er aufgepäppelt wurde.
Vielleicht war er krank, vielleicht Altersschwach, vielleicht war es ein Jährling, der sich verflogen hatte.
Vielleicht war er auch einfach nur hungrig.
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Diese Geschichte ist tatsächlich so passiert. Hier vor der Haustür. Niemand hat weggesehen, alle haben mitgeholfen. Mit Geduld, mit Anrufen, mit Straßenabsperrungen, mit Ratschlägen, mit Zusammenhalt.
Was jeder, der dabei war, gemerkt hat: Wenn ein Lebewesen in Not ist, ist der erste Reflex, zu helfen.
Helfen ist ganz normal. Weil es menschlich ist.
Egal, ob einem Kormoran, der sich in eine 30er-Zone verirrt hat oder einem Menschen, der dabei ist, zu ertrinken.
Es gibt leider Menschen, bei denen dieser Reflex – aus welchen Gründen auch immer – verkümmert ist. Vielleicht, weil sie ihn abtrainiert haben oder weil sie einfach abgestumpft sind. Diese Menschen sind laut und werden immer lauter.
Helfen ist leise. Aber besser.
Egal, ob es um Kormorane geht oder um Menschen.
Oh man! ❤️
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