Der Mensch besteht zu 80 % aus Wasser. Die restlichen 20 % gehen für Knochen, Haut, Fett, Gelenkflüssigkeit, etwas Hirn, Muskeln und zu einem großen Teil auch für Vorurteile drauf.
Ich habe mich mal mit einem meiner Vorurteile auseinandergesetzt und versucht, es abzulegen.
Vorurteil: „Liegefahrräder sind richtig scheissepeinlich!“
Nur spaßbefreite Lötkolbenfans und Mathefreaks, allenfalls Maschinenbauingenieure fahren ein Liegefahrrad. Denn nur Mitbürger, die das Periodensystem der Elemente bei sich im Wohnzimmer hängen haben, sich für die Machart von Explosionen in Blockbustern interessieren und Konzerte anhand der gespielten Minuten beurteilen, haben wirklich kein Problem damit, für ihre Fortbewegungsart belächelt zu werden.
Sie tragen ja auch wasserdichte Handy-Taschen am Gürtel und immerscharfe Taschenmesser in der Multifunktionsjacke.
Und diesen Leuten ist ihr Image genauso egal wie ihre Frisuren. Oder ihr Anti-Image.
Ich selbst fahre viel Fahrrad; Rennrad, Klapprad, ich fahre tagsüber, abends, bei Sonne, bei Regen, bei jeder Jahreszeit. Jeden Tag. Und überall hin. Dabei lasse ich mich gern von Autofahrern anhupen und von Fußgängern anbrüllen.
Und natürlich bin ich auch einer von denen, die Liegeradfahrer nicht ernst nehmen können. Da bin ich aber einer fast 100 Prozent der restlichen Weltbevölkerung.
Wenn ich mein Lebensmischpult vor mir betrachte und den Regler mit den Vorurteilen mal runterziehe, stellt sich mir eine Frage: „Was genau ist eigentlich so peinlich an Liegerädern?“
Diese Frage drängte sich mir zumindest auf, als ich ein ziemlich muskulöses Exemplar vor mir stehen sah. Von hinten drückte sich mir eine bass-lastige Stimme eines silberhaarigen Herrn ins Ohr.
„Sie können gern mal ne Runde fahren“.
Was, wenn mich jemand sieht? Was, wenn ich mich blamieren muss? Was, und das wäre wahrscheinlich das Schlimmste, wenn – ich Gefallen daran finde? Nach 10218 weiteren „Was, wenn…“-Fragen hab ich mich fürs Ausprobieren entschieden.
Der Einstieg folgt nach Anweisung des Besitzers und nach einer bestimmten, meinem Bewegungsapparat völlig fremden Choreographie.
Sobald die Wirbelsäule sich an den gemütlichen Sitz geschmiegt hat und die Beine ausgestreckt sind, stellt sich fast so etwas wie das „gemütlich-auf dem-Sofa-sitzen-und-die-Beine-langmachen-Gefühl“ ein.
Die Nackenmuskulatur entspannt sich, die Arme sinken Richtung Asphalt und werden vom großartig konzipierten, weil perfekt liegenden Lenker abgefangen. Intuitiv greifen die Hände die Lenkergriffe.
Bremse, Schaltung, alles liegt fest und mit einem schon fast unheimlichen Vertrauensvorschuss in der Hand.
Die Augen gewöhnen sich schnell an die Perspektive, sitzend, knappe 30 cm über dem Boden Rad zu fahren.
Falsch.
Sie gewöhnen sich nicht daran, sie erinnern sich. Denn die Perspektive ist die Mischung aus kindlich-langsamen Kettcar fahren und dem beschriebenen auf-dem-Sofa sitzen. Mit dem Additiv der sehr schnellen Fortbewegung, welche nahezu mühelos und auf längeren Strecken mit großer Wahrscheinlichkeit schmerzlos vonstatten geht.
Das Fahren mit einem Liegefahrrad ist weniger Fahren als vielmehr Gleiten. Was von Außen betrachtet lästernswert aussieht, ist, subjektiv gesehen, elegantes Vorankommen, und zwar immer schön mit den eigenen Füßen im Blickfeld. Die Lenkung arbeitet extrem präzise, der Wendekreis ist erstaunlich klein.
Trotzdem dürfte ein Liegerad seine Stärken auf langen Geraden haben.
Und, ja, man sieht die Dinge anders: Dickwanstige Modehunde begegnen einem auf Augenhöhe. Genauso Kniescheiben von Fahrradfahrern und Stoßstangen von Kleinwagen. Fährt man an einem SUV vorbei, kann man hervorragend in den Radkasten sehen und sich von dem Zustand der Stoßdämpfer überzeugen.
Was erst ziemlich spät auffällt: Gegenwind ist egal, denn der ist für die da oben. Für genau die, die einen belächeln, was einem nach einer Zeit ziemlich schnuppe sein dürfte.
Ich habe mich herabgewagt auf das Liegefahrrad und gleichzeitig mein körpereigenes Vorurteil-Kellergewölbe und finde: Liegefahrräder sind keine Beleidigung für den Radweg. Sie sind längst nicht so peinlich, als dass man es nicht wenigstens einmal ausprobieren sollte.
Einen ziemlich großen Nachteil gibt es aber: Es macht keinen Spaß, mit einem Liegerad auf eine viel befahrene Kreuzung zuzufahren und zu gucken, ob von links oder rechts etwas kommt. Die Füße im Blickfeld, den Kopf am Heck.
Ein einzigartiger Vorteil: Mit einem Liegefahrrad macht man wahrscheinlich auch im Autokino eine gute Figur. Natürlich nur wenn man Lästerresistent ist und Blockbuster mag.