ABRISS UND NEUBAU.

Was war denn da nochmal? Wie sah das Haus aus, als es noch stand? Waren die Fensterläden blau? Grün? Grau? Hatte es überhaupt Fensterläden? Das Dach hatte zu hundert Prozent rote Ziegel. Können aber auch schwarze gewesen sein, mit so Moosbewuchs.
Die Haustür war – ähm. Butzenscheiben waren da drin, der Briefkasten war – äh – und der Garten war immer ziemlich – ähm. Ja.
Und wer hat da gewohnt? War es nicht diese eine alte Mecker-Omi mit ihrem schrulligen Sohn? Nee. Da war doch ne ganze Familie, die mit den blonden Töchtern und dem Hund. Oder?

Mit einem Haus, das abgerissen wird, löst sich offenbar immer gleichzeitig die komplette Erinnerung in Schutt auf. Sobald die Baggerschaufel die Wand eingerissen hat, sobald die Heizungsrohe wie Krampfadern aus dem Schrott gezogen wurden, sobald der Staub sich gelegt hat, ist die Erinnerung an das Haus weg. Und macht Platz für Neues.

Im Kopf des Menschen scheint ein bestimmter Speicherplatz für Gebilde und Gewohnheiten zu sein, der immer mal wieder überschrieben wird, sobald etwas zu alt oder zu kaputt ist. Die Erinnerungen verblassen nicht nur langsam wie alte Fotos, sie werden manchmal von schweren Geräten weggerissen und überschrieben.

Auch die Erinnerung an die Corona-Epidemie wird irgendwann entfernt werden. Sowohl die wirklich schlechten und schmerzhaften Erinnerungen als auch die nicht-so-schlechten werden dann innerhalb kürzester Zeit zerlegt. Wir werden mit Verhalten auf die Krise, vor allen Dingen auf das Ende der Krise reagieren.

Es wäre allerdings extrem schade, wenn wir unsere Gedächtnisspeicher sofort wieder mit Berufsverkehrstau und Autokorsos, mit Geschiebe und Geschubse, mit Businessflügen, mit Übertreibungen, mit Freizeithysterie, mit Lärm, mit Billigflügen, mit Hupen, mit Gegrabbel, mit dieser äußeren Weite und der inneren Enge auffüllten.
Wenn die Einkehr sofort wieder durch Alarm abgelöst wird. Denn soviel wie gerade haben so viele Menschen gleichzeitig wahrscheinlich selten über ihre Leben nachgedacht. Über ihre Lungen übrigens auch nicht.

Wäre schade, wenn Bundesligaspiele schnell wieder wichtiger sein werden als zum Beispiel die aufkeimende Nachbarschaftshilfe. Oder wenn Biergarten unter den Tische reihern schnell wieder angesagter sein wird als regelmäßiges Händewaschen.
Die an einigen Stellen positiven Wirkungen und Auswirkungen von Corona werden schnell wieder egal sein. Ein massenkompatibler Zweckbau wird einen Steinhaufen ersetzen.

Aber die Aufmerksamkeitsspanne für Telefonkonferenzen, für ein bisschen Demut, für Schnelligkeit und Flexibilität, für das innere Kalibrieren sollte nicht innerhalb von wenigen Stunden weggerissen werden wie so ein olles Haus. Wäre zumindest sehr schade.

Ein Beispiel: Die Erinnerungen an die Pflegekräfte, Ärzte, SupermarktmitarbeiterInnen, Müllmänner, Schaffner und Polizisten, WasserwerkmitarbeiterInnen und überhaupt alle Unterbezahlten, die sich gerade den Arsch für das Land aufreißen, werden mit dem ersten erleichterten Restaurantbesuch oder dem Bier mit den Jungs oder dem langersehnten Bundesligaspiel aus dem Erinnerungsspeicher entfernt. Kliniken weiterhin privatisiert und auf Effizienz getrimmt.
Also auch hier: Alles wie immer. 

Ein anderes Beispiel: adidas, der Konzern mit Milliardengewinnen, steht momentan sehr stark in der Kritik, weil er im Gegensatz zu den kleinen Einzelhändlern einfach mal so sagt: „Pffffft! Wir zahlen keine Mieten! Corona ist Schuld!“
Politiker verbrennen öffentlichkeitswirksam Poloshirts der Marke. Der Imageschaden für das Unternehmen aus Herzogenaurach könnte immens sein.
Wenn diese Marke aber jetzt Hygienemasken rausbringt, so richtig abgefahrene Dinger in geilen Farben, mit drei Streifen und irgendeinem „air lock System“, und wenn ein paar Influencer abgefahrene Selfies damit machen, werden viele Leute die Dinger natürlich sofort bestellen. Bei amazon. Und dem Paketboten, der die Dinger liefert, drücken sie auf Twitter eine miese Bewertung rein. Also alles wie immer.

„Wichtig“ und „unwichtig“ werden wieder neu bewertet. In Zahlen, in Medaillen, in Punkte.

Auf dem Schotterhaufen wird bald wieder ein Haus stehen.

Wir können allerdings dafür sorgen, dass es ein Haus sein wird, an das wir uns alle lange erinnern werden. Auch an die Tür und den Briefkasten. Und vor allen Dingen an die Leute, die in dem Haus gewohnt haben.

Weil wir mitgestalten können.

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