KONFLIKTWURZEL.

Der Mann, der mit Kind und Schild an der verschlossenen Außengrenze in Idomeni steht, hat schnell verstanden, was wirklich wichtig ist.
Was aussieht wie wütendes Schreien ist nur lautes Reden.
Die Grenzgeräusche waren zum Zeitpunkt des Interviews ziemlich laut.

„First things first!“, fängt er an. Dann redet er ruhig und besonnen weiter.
„Ich verstehe das. Wir verstehen das alle. Kein Problem! Ist doch klar, dass man gerade jetzt in dieser schwierigen und unsicheren Zeit einen Anker in das Gute alte Leben braucht.
Das traditionelle Essen gehört ganz einfach dazu, sowas gibt Halt. Sagen auch Soziologen und viele andere Forscher. Und wir kennen das natürlich auch irgendwie. So ein gemeinsames Mahl ist ein kleiner Fixpunkt im aufgewühlten Leben.
Der heilige Sonntag ist der Tag, an dem die deutsche Familie zusammen sitzt, Spargel mit Sauce Hollandaise genießt. Allein das Wort „Hollandaise“, wie es im Mund fliesst, ein sehr weiches Wort, wie die Konsistenz der Sauce. Hollandaise ist Samt im Mund.
Dazu gibt es junge Kartoffeln und Schinken vom Schwein. Genießer essen den Fettrand natürlich mit. Alles zerläuft. Spargel schmeckt nach Sehnsucht. Kein Wunder, dass man oft hört und liest: „Endlich Spargelzeit!“
Und dann sitzt man und redet über die guten alten Dinge. Den Grill mit Smoke-Funktion, oder die letzte Kreuzfahrt im Mittelmeer, vorbei an den griechischen Inseln. Schön, sowas. Bekommt anderes Essen sowas auch hin? Frikadellen? Kotelett? Bockwürstchen mit Senf?

Spargel übt allerdings Druck auf die Gesellschaft aus, das verstehen wir auch. Denn Spargel ist eben auch ein Saisongemüse. Das darf man wirklich niemals vergessen. Nie!
Spargel ist Druck für alle: das Wetter, die Bauern, die Supermärkte, die Familien. Es wird viel diskutiert: „Dazu Pellkartoffeln oder Salzkartoffeln? Soll man Spargel im Ganzen kochen oder zerteilen? Wer bekommt die meisten Spargelköpfe? Soll man den Spargel schon im Supermarkt an der Schälmaschine schälen lassen oder zu Hause?“
Spargel ist eben auch ein Konfliktgemüse.  

Die Spargelzeit hat für viele erwachsene Menschen einen ähnlichen Stellenwert wie Weihnachten für Kinder. Man freut sich das ganze Jahr drauf. Und es ist so eine Kurze Zeit, die Butter ist quasi noch nicht mal zerlassen – zack, ist es auch schon wieder vorbei. „Ich kann Spargel echt nicht mehr sehen!“ hört man nur von Banausen und von Menschen, die „Dinner for one“ nicht witzig finden.
Der 24. Juni ist „Spargelsilvester“. Danach geht nichts mehr. Davor war nur Lauch, danach kommen Erbsen, Tomaten und Butterrüben. Das ist auch gut, aber eben kein exklusives Wurzelgemüse.
Die Spargelfreie Zeit ist schlimmer als die Bundesligapause.

Und wir verstehen auch alle, wie wichtig der Moment ist, wenn der eigene Urin nach Spargel riecht und man beim Pinkeln überrascht denkt: „Huch! Ach ja, stimmt, ich hatte vorhin Spargel. Mann, der war aber auch lecker! Hmmmmm!“ Das ist wichtig. Spargel wirkt nach.

Und glauben Sie mir – auch wenn ich noch nie Spargel gegessen habe: Ich liebe ihn jetzt schon. Ich liebe bestimmt auch den holzigen Spargel, der schmeckt wie ein gekochter Ast.
Wir haben im Internet nach Spargelrezepten gesucht. Und die leckersten lesen wir unseren Kleinen als Gutenachtgeschichte vor.
Meine Kleine mag am liebsten die Geschichte vom Spargelcrèmesüppchen mit Erdbeeren und grünem Pfeffer. Nur wenn der Spargel geschält wird, muss sie kurz weinen.

Worüber ich mich allerdings ärgere, und da spreche ich für uns alle: Wir haben viel zu lange gebraucht, bis wir ein Stück Pappe und einen Kugelschreiber organisieren konnten. Dann haben wir zu lange überlegt, ob wir „Wir können euren Spargel stechen!“ drauf schreiben.
Aber das wäre uns von einigen Populisten und Hetzern sehr wahrscheinlich negativ ausgelegt worden. Im Sinne von „Erst den Spargel, dann die Mädchen, oder was!?!?“ oder „Vom Spargelstecher zum Messerstecher.“ Spargel ist eben auch kommunikativ anspruchsvoll.

Eine Konfliktwurzel eben.

Naja. Und jetzt wurden schon längst rumänische Erntehelfer eingeflogen. Die Ernte hätten wir doch auch retten können. Wäre ein doppeltes Retten gewesen. Wir hätten….naja, nächstes Jahr vielleicht – wenn die Pappe bis dahin nicht verfeuert ist.

Auch wenn das jetzt vielleicht anders klingt, möchten wir unbedingt, dass alle Deutschen wissen: Für uns ist Spargel nicht die Wurzel allen Übels. Niemals! Auch jetzt nicht.

Lassen Sie es sich schmecken!“


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Originalquelle:

https://tageswoche.ch/allgemein/fluechtlingslager-am-griechischen-grenzuebergang-idomeni-ueberfuellt/

Wichtig in diesem Zusammenhang:

https://www.zeit.de/2020/17/minderjaehrige-fluechtlinge-griechenland-deutschland-evakuierung

Bilder, die einen sehr nachdenklich machen:

https://www.ecosia.org/images?q=moria+fluechtlingslager

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