GEDULD.

Autos fahren von Null auf Hundert in unter sechs Sekunden. Amazon prime liefert noch am selben Tag. Sachen aus dem Netz sind schneller runtergeladen als man das Wort „Download“ buchstabieren kann. Warum braucht der Sushi-Lieferservice bitte eine Dreiviertelstunde?!?! Alles ist voller + + + EILMELDUNGEN + + +.
„Das Buch hat 380 Seiten? Das les´ ich nicht. In der Zeit kann ich drei Staffeln gucken!“ Wieso ist hier nur LTE? Geht das nicht schneller? Erst 79 Likes? Und das in einer Stunde? Hallo? Gibt’s doch gar nicht! Wie lange muss ich denn noch zu Hause hocken?! Wann geht die Liga wieder los? Hä? Lasst die Kinder Turbo-Abi machen! Warum dauert dieser Text so lange?

Wir haben uns zu hibbeligen Optimierungsmaschinen entwickelt, die alles effizienter und schneller machen. Und wenn es noch schneller geht, wird alles dafür getan, dass es ganz schnell noch schneller geht. Egal, was, es wird beschleunigt. Ob Heilungsprozess nach einem Oberschenkelhalsbruch, ob Herstellungsprozess von Zahnpastatuben oder Tierzucht. Man kann nämlich überall noch ein bisschen Zeit rausholen. Dieser Zeitgewinn wird investiert. In Optimierungsmaßnahmen und Freizeitstress.

Und dann kommt doch tatsächlich so ein kleines Virus daher und legt unsere schöne, schnelle Welt lahm. Es gibt massive Einschränkungen, Unsicherheiten und Angst. Spürt jede und jeder einzelne.
Und die Kritik an der Regierung, an den Handelnden, an den Entscheidenden wächst mit jeder Stunde, in der nichts mehr so ist wie es früher mal war. Verständlich.

„Die da oben sollen mal hinmachen! Ich will ins Stadion!“


Noch vor wenigen Wochen waren Virologen die Helden, jetzt, wo die Ungeduld wächst, werden sie mental schon zum Scheiterhaufen geführt. „Quacksalber! Glaubt denen kein Wort! Die Zahlen stimmen niemals! Das ist Abzocke!!!“
Die Hobby-Virologen, die Hobby-Regierenden und Menschen von der YouTube-Uni werden lauter. Verschwörungstheoretiker kriechen aus ihren Löchern, kreischen ihren unsinnigen Gedankenschrott in die Welt. Unsichere Menschen zweifeln, lassen sich mitziehen. Waffen werden durchgeladen. Zumindest die im Kopf.

Es bilden sich gefährliche Gruppen, die sehr schnell wachsen. Zum Beispiel die Partei „Widerstand2020“ – eine Partei, die aus dem Stand auf 70.000 Mitglieder gekommen ist. Also ungefähr auf Augenhöhe mit den Grünen und der FDP. Das sind Leute, denen es nicht schnell genug gehen kann, die auf jeden Fall auch schnell explodieren werden. Das Coronavirus ist quaso Gründungsmitglied dieser Partei – hinter dem Anti-Virus-Programm wird noch viel mehr stecken. Werden wir auch alles sehr schnell erleben.

Kritik ist richtig und wichtig.
Kritik kann man aber auch maßvoll äußern und man sollte die Kritik auch immer ein bisschen mit Verständnis mischen und sich überlegen, dass jede Handlung, die man vollzieht, Auswirkungen hat. (Bezieht sich nicht nur auf Lockerungsmaßnahmen, kann man fast überall anwenden)

Verständnis sollte man dafür haben, dass die Situation, die wir gerade alle erleben, so noch nicht da war. Erkenntnisse müssen erstmal gewonnen, gesichert und dann unter Berücksichtigung aller möglichen Auswirkungen angewendet werden.
Das dauert ein bisschen und fühlt sich nach Hü und Hott an. Was vor ein paar Tagen noch gut war, ist vielleicht heute anders. Und umgekehrt.

„Joa, Händewaschen war noch ok, aber jetzt langt es! Vor zwei Wochen hieß es: Masken bringen nichts, jetzt ist die Maskenpflicht da! “

Ein Julian Reichelt lässt es sich natürlich nicht nehmen, Benzin in die Glut zu spritzen und den Spalthammer durch das Land zu treiben. Der Mann will einen Flächenbrand.
Die AfD (die übrigens jetzt, da es Widerstand2020 gibt, offiziell eine Altpartei ist) macht sich mit wirklich dummen Hetzversuchen lächerlich. Es bilden sich Querfronten aus Impfgegnern, Einzellern und Rechten. Das ist teilweise amüsant anzusehen, aber es ist auf jeden Fall nicht gut.

Nochmal zum Verständnis: Das Coronavirus hat eine Inkubationszeit von bis zu 14 Tagen. Bei jeder Maßnahme, ob nun Shutdown, Lockdown oder Lockerung, weiß man erst nach zwei Wochen, ob sie gewirkt hat. Zwei Wochen. Ein Virus lässt sich nicht hetzen.

Diese bis zu 14 Inkubationstage kann man natürlich füllen, wie man möchte.
Man kann laut sein oder wütend werden. Man kann sich von den Extrem-Ungeduldigen mitreißen lassen.

Oder man kann in der Zeit wachsen und versuchen, einige Dinge besser zu machen: Versuchen zu verstehen. Kritik maßvoll äußern. Ist alles nicht leicht. Denn was da so zwickt, und nervt und die Zeit anfühlen lässt als wäre sie eine Masse aus Gelee, ist Wachstumsschmerz.

Und Geduld ist ein Teil davon.

(Sorry dafür, dass der Text so lang geworden ist. Aber jetzt könnt ihr schnell wieder was anderes machen.)

Ein Gedanke zu “GEDULD.

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